Nachruf
Oberriet. (Korr.) Donnerstag den 25.
d. M. verschied Jos. Ant. Stieger pr. Arzt. Der-
selbe wurde zu Appenzell geboren im Jahre 1812.
In einem Alter von 6 Jahren verlor er feinen
Vater. Der Stiefvater, welcher die Gemüthsart
des Kleinen nicht verstand ober derber Natur
war, behandelte ihn so streng, daß ihm derselbe
einmal auf dem Acker entlief und nicht mehr zu=
rückkehrte. Gute Freunde verwendeten sich für
den hoffnungsvollen Knaben, daß er studiren
konnte, anfänglich zu Wyhl, dann zu St. Gallen.
Vier Jahre verbrachte er im Jesuitenkolleg zu
Freiburg. Zu München und Zürich der Arznei=
wissenschaft obliegend hatte Stieger als wenig be=
mittelter Studios manche bedrängte Zeiten, er=
warb sich aber das Nothwendige durch Ertheilung
von Unterricht. Seine erste Anstellung fand er in St. Jo=
hann, seit 1862 in seiner Vatergemeinde Ober=
riet, wo er viele Jahre den Bezirksärzten als Ad=
junkt beistand. J. A. Stieger kam im Anfange
seiner Wirksamkeit in Kreise, welche seiner frühern
Gesinnung entgegengesetzt waren und trat wie
viele seiner Zeitgenossen zur "neuen" Richtung
über und interessirte sich dafür bis in sein hohes
Alter lebhaft. die letzten bewegten Zage haben
noch manchmal seine erbleichten Bäcklein geröthet.
Aber in andern Beziehungen blieb er seinen in
der Jugend gefaßten Grundsätzen treu. Er hatte
stets für Nothleidende ein mitleidiges Herz; man=
cher Handwerksbursche aß an seinem Tisch, vie=
len armen Kranken ließ er freiwillig den Konto
nach. In seinem Berufe zeichnete sich Dr. Stie=
ger durch Pflichttreue aus. Er wendete in Be=
sorgung der Heilmittel alle Vorsicht an, waren
die Patienten arm oder reich. Nicht wenige Nächte
brachte er schlaflos zu, da er den Kuren seiner
zahlreichen Pflegbefohlenen nachdachte. In reli=
giöser Hinsicht konnte er sich nicht mit den Gleich=
gültigen befreunden. Auch da seine Kräfte ab=
nahmen, wo sich so viele entschuldigen, wohnte
er noch fleißig dem Gottesdienst bei. R. I. P.

Quelle: Die Ostschweiz, 1. Februar 1883
|